Wenn die Bordsteinkante zu einer neuen Berliner Mauer wird

03.03.2019

Für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, und Personen mit starker Einschränkung der Sehfähigkeit ist die Infrastruktur einer Stadt oft ein großes Problem. Bordsteine, die kaum zu überwinden sind, oder stille Fußgängerampeln, die allein durch Lichtzeichen funktionieren, sind alltägliche Hürden.
Diese Erkenntnis haben jetzt Sportstudierende der Universität Paderborn in Berlin hautnah gewonnen. Sie unterzogen im Rahmen einer mehrtägigen Exkursion öffentliche Wege und Verkehrsmittel einer Praxisprobe, versetzten sich in die Perspektive der Betroffenen – und hatten dabei auch wenig schmeichelhafte Begegnungen.
Treffen mit Expertinnen und Experten in inklusiven Schulen und aus dem außerschulischen Sport machten hingegen viel Mut. Das Fazit: Es gibt erste gute Ansätze, aber auch noch viel Luft nach oben.

Prof. Dr. Sabine Radtke, Leiterin der AG Inklusion im Sport innerhalb des Departements Sport & Gesundheit der Universität Paderborn, hat die Exkursion konzipiert. Als Berlinerin nutzte sie ihre Ortskenntnisse sowie Kontakte und sorgte bei den Teilnehmenden für zahlreiche Aha-Erlebnisse. „Es ist ein großer Unterschied, Inklusion theoretisch vermittelt zu bekommen oder sie hautnah zu erleben“, macht Prof. Dr. Sabine Radtke deutlich. Sie freut sich darüber, dass auch Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen die Exkursion unterstützten und das Praxiserleben ermöglichten.

„Pfeffersport“ hat unterstützt
Gleich zum Start der Exkursion tauchten die Studierenden in das großstädtische Leben ein. Mit fünf Rollstühlen und einigen Blindbrillen und -stöcken erkundete die Gruppe den Prenzlauer Berg. Dabei mussten einige alltägliche Situationen gemeistert werden. Dazu gehörte der übliche Weg auf dem Bürgersteig und über die Straße ebenso wie die Suche nach dem Zugang zum Supermarkt, das Einkaufen oder die Fahrt mit der Tram. Begleitet wurden die Studierenden vom Rollstuhlbasketballer Christoph Pisarz und Lisa Hübler, die als Vereinsvertreterin von Pfeffersport die Tour ermöglicht hat. Pfeffersport ist Berlins größter Kinder- und Inklusionssportverein mit derzeit über 4.600 Mitgliedern. Er engagiert sich für inklusives Sporttreiben in berlinweiten Projekten und Initiativen.

Viele Schulen gehen mit guten Beispielen voran
Auf dem Programm stand auch ein Besuch der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule in Moabit. In dieser Gemeinschaftsschule ist längeres gemeinsames und individuelles Lernen von Klasse 1 bis Klasse 13 fest verankert. Sie hat das Ziel, mehr Chancengleichheit und -gerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen und eine optimale Förderung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten aller Schülerinnen und Schüler zu schaffen. In der Mittelstufe der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule durfte die Paderborner Gruppe u. a. die Kunst-Projektwoche miterleben, bei der Jugendliche mit den Förderschwerpunkten „Geistige Entwicklung“ und „Lernen“ als ein großes Gemeinschaftskunstwerk ein Mosaik-Wandbild gestaltet haben.
Ein positives Beispiel erlebten die Exkursions-Teilnehmenden auch in der Erika-Mann-Grundschule in Wedding. Sie hospitierten im Sport- oder Tanzunterricht und erfuhren, dass die Einbeziehung etwa von Kindern mit Down-Syndrom im Basketball oder beim Tanzunterricht in der übergreifenden Klasse 1-3 erfolgreich praktiziert wird. Die Kinder werden in allen Fächern gemeinsam unterrichtet, eine Trennung nach Leistungsstand findet erst ab Klasse 4 statt.
Sportlich wurde es beim Blindenfußball. Hier zeigten die Spieler der Blindenfußball-Abteilung des Vereins Viktoria 1889 Berlin, wie Menschen mit eingeschränkten Sehfähigkeiten in der Lage sind, zu kicken. Die Orientierung funktioniert hier mit Zurufen und durch die Geräusche des Balls.

Gebraucht werden gute Vorbilder
Im weiteren Verlauf der Exkursion besuchten die Studierenden aus Paderborn die August-Sander-Schule in Friedrichshain. Dies ist eine Berufsschule unter anderem mit sonderpädagogischer Aufgabe. Im Fokus der Studierenden stand zunächst der Sportunterricht. „Der Unterricht war sehr authentisch und der Lehrer hat es geschafft, das komplexe Thema Volleyball mit sehr einfachen Mitteln und individuellen Regeln so zu verändern, dass ein Spiel zu Stande kam“, zeigte sich Prof. Dr. Sabine Radtke beeindruckt.
Zum Abschluss besichtigten die Studierenden noch die Werkstätten der Schule, in denen die Schülerinnen und Schüler ihre praktischen Erfahrungen sammeln. Es gibt die Möglichkeit, sich in den Bereichen Agrarwirtschaft und Umwelt (Gartenbau, Landwirtschaft, Tierpflege), Gastgewerbe und Hauswirtschaft, Sozialwesen oder Technik mit Farb-, Holz-, Metalltechnik ausbilden zu lassen.
Die zahlreich erlebten guten Beispiele bestätigten die Annahme der Exkursionsgruppe, dass die Inklusion in vielen Bereichen der Ausbildung und im Sport bereits erfolgreich gelebt wird. Maßgeblich für den Erfolg sind aber oftmals einzelne Akteure, die mit guten Ideen und großem Engagement eine Vorbildfunktion haben.


Teilnehmerinnen berichten:

Lena Forell: „Die Exkursion hat mich inspiriert, darüber nachzudenken, mein Referendariat in Berlin zu absolvieren. Ich interessiere mich sehr für alternative Schulformen und habe den Wunsch, später nicht in einer Regelschule zu arbeiten. In Großstädten wie Berlin sind mir dazu viele Möglichkeiten geboten, die ich gerne weiter erforschen möchte. Gerade im jungen Alter erachte ich es als Chance, viele verschiedene Erfahrungen zu sammeln. Mich haben die Brennpunktschulen keineswegs abgeschreckt.“

Miriam Schildwächter: „Als Lehrerin in einer (inklusiven) Schule muss ich mehrperspektivisch handeln, um allen gerecht zu werden. Neben den Rahmenbedingen, die eine zentrale Rolle für die Umsetzung eines inklusiven Verständnisses sind, kommt der Lehrkraft eine tragende Funktion zu, in dem sie ihre Haltung zum Thema Heterogenität klar zeigt. Denn nur, wenn ich und andere Lehrkräfte die Verschiedenheit als eine Chance sehen, kann meiner Meinung nach Inklusion in der Schule gelingen.“

Friederike Schweins: „Für mein zukünftiges berufliches Wirken nehme ich mit, dass jeder Mensch einzigartig ist und es keine homogene Gruppe gibt. Die Schülerinnen und Schüler sollten gemäß seiner oder ihrer Ressourcen gefördert und gefordert werden.
Natürlich sollte ich den Unterricht immer so versuchen zu planen, dass alle Schülerinnen und Schüler an dem Unterrichtsgeschehen teilhaben können. Wenn unvorhersehbare Dinge geschehen, muss ich flexibel mit der Situation umgehen und meine geplanten Unterrichtsvorhaben an die Lerngruppe anpassen.“