Pa­ralym­pi­sche Ath­le­tin­nen und Ath­le­ten lei­den un­ter den Fol­gen der Co­ro­na-Pan­de­mie

Studie der Universität Paderborn offenbart langfristige Konsequenzen für den Leistungssport

26.04.2021

Das weltweite Sportgeschehen befindet sich seit nunmehr über einem Jahr im Corona-Modus. Training und Wettkämpfe sind stark eingeschränkt oder gar nicht möglich. Davon betroffen ist auch der Hochleistungssport. Welche Auswirkungen die Pandemie auf paralympische Athletinnen und Athleten hat, steht im Mittelpunkt einer Untersuchung, die von Wissenschaftlerinnen derzeit an der Universität Paderborn durchgeführt wird. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft finanziert das Forschungsprojekt.

Prof. Dr. Sabine Radtke, Leiterin der AG „Inklusion im Sport“ am Department Sport und Gesundheit der Universität Paderborn, und ihre Wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Marie Biermann haben 138 paralympische Athletinnen und Athleten aus ganz Deutschland zu Belastungen, Bewältigungsstrategien und Folgen der COVID-19-Pandemie seit dem vergangenen Jahr befragt.
Die Online-Befragung, die mit einer erfreulichen Rücklaufquote von 35 Prozent endete, richtete sich an Para-Athletinnen und -Athleten aus allen Sportarten, die Mitglied im Paralympicskader, Perspektivkader, Nachwuchskader, Teamsportkader und Ergänzungskader sind. Rund ein Drittel derjenigen, die an der Studie teilgenommen haben, gehört dem Paralympicskader an. Aus dieser Gruppe werden die zukünftigen Paralympics-Teilnehmenden rekrutiert.

Spürbare Folgen für Leistungsfähigkeit und Motivation

Für die Wissenschaftlerinnen sind zwei Ergebnisse besonders aussagekräftig: Als größte Belastungen während der corona-bedingten Einschränkungen werden die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit bzw. der Wegfall der Wettkämpfe sowie die Aufrechterhaltung der sportbezogenen Motivation empfunden.
Erstaunlich sei, dass 43 Prozent der Befragten angaben, seit dem Beginn der Corona Pandemie im März 2020 an keinem Wettkampf mehr teilgenommen zu haben. „Während des ersten Lockdowns haben 35 Prozent der Befragten tatsächlich überhaupt nicht trainiert“, sagt Prof. Dr. Radtke. „Das hat Folgen für die Fitness und die Motivation gleichermaßen. Den paralympischen Athletinnen und Athleten fällt es schwer, sich ohne ein konkretes Wettkampf-Ziel oder Wettkampf-Höhepunkte zum Training zu motivieren.“ Auch das Training ohne Partnerin oder Partner wird als Problem bewertet. Außerdem werde die eigene Leistungsfähigkeit heute wesentlich negativer eingeschätzt als vor der Pandemie: Im März 2021 sind im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit nur halb so viele Sportlerinnen und Sportler mit ihrer Leistungsfähigkeit voll zufrieden; Ähnliches ist in Bezug auf die mentale Leistungsfähigkeit zu beobachten. Dazu passt, dass sich fast ein Viertel der Athletinnen und Athleten seit Beginn der Pandemie vermehrt nicht-sportliche Freizeitbeschäftigungen gesucht und sich vom Hochleistungssport abgewandt hat. Zehn Prozent der Befragten geben sogar an, aufgrund der Pandemie ihre Karriere vorzeitig beenden zu wollen.

Unklarheit über Spiele in Tokio

Derzeit ist noch nicht final entschieden, ob in diesem Jahr die für 2020 geplanten Paralympischen Sommerspiele in Tokio nachgeholt werden. Die Paderborner Wissenschaftlerinnen interessierte eine Einschätzung der Athletinnen und Athleten zu diesem Thema. 66 Prozent der Befragten befürworten das Stattfinden der Paralympischen Spiele in diesem Jahr, aber 34 Prozent sprechen sich dagegen aus. Auf lange Sicht zeigen sich die Befragten optimistischer: Über 90 Prozent befürworten das Stattfinden der Paralympischen Winterspiele 2022. „Er herrscht eine Unzufriedenheit mit der Situation, aber es gibt auch einen gewissen Durchhaltewillen und die Hoffnung auf bessere Zeiten“, sagt Dr. Biermann.

Nachwuchsleistungssportlerinnen und -sportler in den Blick nehmen

Prof. Dr. Radtke betont, dass es wichtig ist, die derzeitige Lage der Sportlerinnen und Sportler der verschiedenen Kaderstufen differenziert zu betrachten: „Im Gegensatz zu den Angehörigen des Paralympics-Kaders, die in Vorbereitung auf die Spiele in Tokio vergleichsweise „normale“ Trainingsbedingungen vorfinden und an Qualifikationswettkämpfen teilnehmen, sind Nachwuchsleistungssportlerinnen und -sportler teilweise mit großen Hindernissen konfrontiert, ihr gewohntes Trainings- und Wettkampfpensum zu absolvieren. Sie erfahren dadurch nicht nur im internationalen Vergleich, sondern auch gegenüber der nationalen Konkurrenz langfristig Nachteile.“ Vor allem für Nachwuchs-Kadersportlerinnen und -sportler sei es problematisch, dass zu Pandemie-Zeiten in den verschiedenen Bundesländern die Nutzung von Trainingsstätten in unterschiedlichem Ausmaß genehmigt wird. Die Tatsache, dass seit einem Jahr keine Talentsuche und -förderung stattfinden kann, werde weit reichende Konsequenzen im Leistungssport nach sich ziehen.

Unterschiede zu Athletinnen und Athleten ohne Behinderung

Auffällig sei, dass über die Hälfte der befragten Para-Sportlerinnen und -Sportler angeben, zur Corona-Risikogruppe zu gehören.  Zudem bewerten die Befragten ihre eigene Situation anders als die von Athletinnen und Athleten ohne Behinderung. „Über 60 Prozent der Befragten aus dem Para-Sport gaben an, dass Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung im Vergleich zu Sportlerinnen und Sportlern ohne Behinderung im besonderen Maße oder auf eine andere Art und Weise durch die Pandemie betroffen sind“, sagt Dr. Biermann. Welche Unterschiede die Para-Athletinnen und Athleten konkret meinen, wird Thema einer in Kürze startenden Interviewreihe sein. Daraus folgend werden praxisorientierte Handlungsempfehlungen für Politik und Sport entwickelt.
Zukünftig wollen die Wissenschaftlerinnen auch die Sichtweise von Leistungssportlerinnen und -sportlern ohne Behinderung verstärkt in den Blick nehmen. Im Moment bereiten sie eine weitere Online-Umfrage unter allen Kadermitgliedern aus dem olympischen Sport vor, vom Olympiakader bis hin zum Landeskader. „Wir wollen die Belastungs- und Bewältigungsstrategien der beiden Gruppen zu Pandemiezeiten vergleichen“, sagt Prof. Dr. Radtke. Auch die zweite Studie wird vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft finanziert und noch in diesem Jahr starten.